Dortmund-Essener Erklärung zur Digitalisierung in der Sozialarbeit

Auf Basis der Diskussionen während der Fachtagung
Digitalisierung (in) der Sozialarbeit?!
vom «Ob» zum «Wie»
am 8. Februar 2023 im Gewerkschaftshaus Essen stimmten Veranstalter:innen, Referent:innen und Teilnehmende diese auf technologische Innovationen bezogene
Dortmund-Essener Erklärung zur Digitalisierung in der Sozialarbeit“ ab und stellen sie hiermit zur fachlichen und (berufs-)politischen Diskussion.
Mutige Beteiligung und deutliche Stimme
für Innovationen, die nutzen!

Homeoffice in der Sozialarbeit ist keine Selbstverständlichkeit. Gleichwohl hat diese Arbeitsform in der Corona-Pandemie auch in den Betrieben der sozialen Dienstleistungserbringung Einzug gehalten. Für die meisten Beschäftigten war das zunächst ungewohnt, heute ist das „mobile Arbeiten“ für viele Professionelle nicht mehr verzichtbar.

Ohne Reibung geht auch diese Transformation nicht über die Bühne. So routiniert die Nutzung digitaler Infrastrukturen in der Reproduktionssphäre (im privaten, außerberuflichen Umfeld) nahezu aller sozial Arbeitenden ist, so dürftig kommt häufig die Ausstattung der Arbeitsplätze von Sozialarbeiter:innen daher.

Grundsätzlich ist der Technikeinsatz in der Sozialarbeit eine Herausforderung für die Profession, aber auch für die Organisationen sozialer und pädagogischer Dienstleistungen. Fortschrittliche Innovationen sind ebenso möglich wie die Gefahr einer Industrialisierung der Sozialarbeit besteht.

Auf einer Fachtagung am 08.02.2023 in Essen haben sich sozial Arbeitende, IT-Fachkräfte, gewerkschaftliche Interessenvertreter:innen und wissenschaftlich Forschende mit diesen Aspekten auseinandergesetzt und folgende Feststellungen getroffen:

  Möglichkeiten zum ortsmobilen Arbeiten sollten, wo die Leistungserbringungskontexte (etwa in stationären Einrichtungen) nicht zwingend örtliche Präsenz vorsehen, in den Betrieben genutzt werden. Hierfür braucht es eine ausreichende Ausstattung mit einer leistungsfähigen digitalen Infrastruktur sowohl an den (Büro-)Arbeitsplätzen als auch im „Mobile Office“.

  Gebraucht werden aber auch Leitplanken, um eine ungesunde Entgrenzung von Arbeiten und dem “Rest des Lebens” aktiv zu regulieren. Dazu gehören verbindliche Dienst- und Betriebsvereinbarungen, funktionierende Teams und nicht zuletzt eine vertrauenbasierte Organisationskultur. Unter keinen Umständen darf der Arbeitsdruck, der die Beschäftigten in vielen Feldern der Sozialen Arbeit belastet, in deren häusliches Umfeld externalisiert werden.

  Sozialarbeit als Koproduktionszusammenhang von Professionellen und NutzerInnen sozialstaatlicher Leistungen darf von technologischen Innovationen nicht abgehängt werden. Im Gegenteil: Vor allem Menschen in belasteten und benachteiligten Lebenslagen bedürfen „bester (digitaler) Bildung“ und „dürfen nicht zurückgelassen werden“ in ihren jeweiligen Social-Media-Blasen. Sie verdienen größtmögliche Anstrengungen, „erreicht zu werden“ und von zeitgemäßen Kommunikations- und Vermittlungsangeboten profitieren zu können. Die Perspektive von potentiellen Nutzer:innen unserer personenbezogenen Dienstleistungen zu berücksichtigen und Adressat:innen zu ermächtigen, gehört in der Arbeit mit Einzelnen und Gruppen zum Wesenskern der Sozialarbeit. In der Organisation neuer technikgestützter Angebote und bei der Nutzung von digitalen Geräten und Medien stellt sich die Aufgabe, die Verwirklichungschancen und Befähigungsmöglichkeiten der Adressat:innen zu steigern und für eine angemessene Ausstattung Partei zu ergreifen, mit neuer Dringlichkeit.

  Technik ist allerdings nicht per se ein Fortschrittsmotor für die Sozialarbeit. Durch den Einsatz von EDV-Fachverfahren insbesondere, aber nicht allein in der behördlichen Sozialarbeit verändern sich bewährte Abläufe, schwinden Handlungsspielräume und geraten Beschäftigte unter zunehmenden Tempodruck. Arbeitsvorgänge werden symbolisch zerlegt, die Arbeitsleistung messbar gemacht und die „Ganzheitlichkeit“ sozialarbeiterischer Professionalität in Frage gestellt. Insofern sind die Dokumentationsprogramme der elektronischen Aktenführung Segen und Fluch zugleich. Einesteils ermöglichen sie die Strukturierung und systematische Aufbewahrung von Fall-Wissen. Andernteils können sie Vehikel einer nachhaltigen Entfachlichung der Berufsvollzüge sein. Für uns ist klar: Solche Fachverfahren dürfen in der Sozialarbeit nicht einfach „eingekauft“ werden. Vielmehr müssen sie zwingend eingebettet sein in die fachlichen Diskurse der Beschäftigten „vor Ort“.

  Schon das Schlagwort „Digitalisierung“, aber vor allem die sich ankündigenden Veränderungen lösen Vorbehalte und Verunsicherungen aus. Hiervon wollen wir uns nicht lähmen lassen. Die Digitalisierung passiert, so oder so. Wir wollen und müssen sie gestalten, damit die Arbeitswelt human bleibt und der Gebrauchswert unserer Arbeit für die Sozialstaatsklient:innen steigt. Dies erfordert eine echte, lebendige, mutige Beteiligung von Beschäftigten in den Betrieben und eine deutliche Stimme der Professionellen und Fachkräfte auf überbetrieblicher Ebene. Ohne beides fehlen bald die Fachkräfte.
Den Diskurs um eine Digitalisierung sozialer Dienstleistungsproduktion wollen wir im Sinne eines soziotechnischen Gestaltungsansatzes weiterführen.

Dortmund & Essen, März 2023

Aktueller Veranstaltungshinweis: 11. Januar 2024
Online-Veranstaltung Digital sozial?! – Schwerpunkt E-Akte
Veranstalter: Abt. Öffentliche und private Dienstleistungen, Sozialversicherung und Verkehr der Gewerkschaft ver.di auf Bundesebene
Infos und Anmeldung >>> hier

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Diese Erklärung verstehen wir als einen Beitrag zu einer Entwicklung, die auch in den Sozialen Diensten der Kommunen schon begonnen hat, deren Tempo, Tiefe und Richtung aber noch längst nicht in der erforderlichen Breite „ausdiskutiert“ worden ist.
Nur mit einer intensiven Beteiligung der Kolleginnen und Kollegen in den Dienststellen landauf, landab, von Personalrät/innen und technischen Fachleuten kann sichergestellt werden, dass Digitalisierung (in) der sozialen Arbeit nicht als „rein technischer Prozess“ verstanden und vorangetrieben wird.

Zur besseren Übersichtlichkeit hier die „Erklärung …“
als pdf – darunter gibt es die Möglichkeit zur Diskussion
>>>  Dortmund-Essener-Erklärung zur Diskussion

2 Gedanken zu „Dortmund-Essener Erklärung zur Digitalisierung in der Sozialarbeit“

  1. Wenn das ein moderner Text sein soll, dann bitte schnell das Wort „EDV“ streichen. Es stammt aus dem letzten Jahrhundert und beschreibt eine vergangene Form der Datenverarbeitung.
    Wenn Soziale Arbeit nicht weiter als rückständig wahrgenommen werden will, muss sie sich auch an aktuelle Begrifflichkeiten (etwa IT) anpassen!
    1. Völlig richtig – Sozialarbeit tut sich immer noch schwer mit „Innovationen“ (auch wenn die in anderen Sektoren längst Alltag sind). ABER: Die Arbeitsbedingungen sind häufig so, dass die Kolleginnen und Kollegen allein aufgrund des Arbeitsdrucks „keinen Kopf haben“, sich auf Veränderungsprozesse einzulassen. Den Raum dazu muss sich Sozialarbeit immer wieder erarbeiten, vielleicht sogar erkämpfen!

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